Obwohl ich immer lieber die Rolle des Onkel innehatte, kam letztes
Jahr ein kleines Wesen in mein Leben: Olivia adoptierte mich. Sie
wollte nach einem Seminar - wir waren schon beim Zusammenpacken -
einfach nicht mehr von meinem Arm, auch nicht zurück auf den ihrer Mutter.
Naja, und dann kamen ihre Mutter und ich zusammen, wir zogen
zusammen und, schwups, hatte ich eine Familie für einige Zeit. Die
Situation zwischen Kendra und mir ist jetzt wieder anders – doch
das ist nochmal eine ganz andere Geschichte!
Wenn man ein Kind erziehen will, braucht man viel Zeit und
Seelenfrieden.
Dieser Spruch ist von "Zen und die Kunst ein Motorrad zu
warten" geklaut.
Wenn man mit Kindern zu tun hat, ist man sehr leicht dazu geneigt,
dem Kind seine "Welt" aufzupfropfen, natürlich im
besten Sinne des Kindes!
Doch da beginnt schon die Lüge. Leider.
Wenn ich mit Olivia den Weg in die Stadt gehe, für den ich allein
nur 5 Minuten brauche, kann es sein, dass wir zusammen eine Stunde
brauchen. Eine ganze Stunde. Es gibt so viel zu entdecken! Sie
entdeckt Dinge, die ich schon lange nicht mehr sehe und jetzt
wiederentdecken darf und muss.
Ich lasse sie. Ich will ihr nicht mein Tempo aufzwängen. Es ginge
so viel Freude dabei verloren. Und ich liebe es, sie in ihrer Freude
zu sehen und zu lassen. Dann ist es auch meine Freude.
Doch ich musste das erst lernen - sie zu lassen. Zuerst wollte ich
meinen Willen durchsetzen. Erwachsene wissen ja schließlich, was gut
ist für ein Kind! Ausserdem, wo kämen wir da hin, wenn man das
kleine Monster einfach so walten lassen würde - es würde uns bald
auf der Nase herumtanzen, ohne die "notwendigen" Grenzen!
Kinder brauchen Grenzen - ein beliebter und gut verkaufter
Buchtitel. Da nicken gleich viele Eltern, Kinder müssen Respekt vor
uns haben!
Doch wieso sind wir so erpicht auf Grenzen, vor allem für Kinder?
Damit es ihnen besser geht, wenn sie größer werden und noch mehr
Grenzen erfahren werden? Wir bereiten sie sicherheitshalber schon auf
die Enttäuschungen des Lebens vor?
Da beisst sich die Katze schön in den Schwanz, denn damit
erschaffen wir doch erst "die Enttäuschungen im
Leben"...! Wir tun so, als ob wir in die Zukunft schauen
könnten, schauen aber in Wahrheit nur in die Vergangenheit - in
unsere eigene schmerzhafte Vergangenheit, um genau zu sein. Wir
wollen dem Kind ersparen, was uns widerfuhr, das uns nur
widerfuhr, weil unsere Eltern uns etwas ersparen wollten...? Pervers!
Wann hört das auf? Wann hören wir auf, Verletzungen weiter zu
geben?
Nun, Olivia ist meine Lehrerin darin, dass ich jetzt damit
aufhören muss. Wann auch sonst?
Das Schöne ist, sie lässt mir gar keine grosse Wahl. Wenn ich
sie zu etwas zwingen will, ist sie so traurig und verstört, dass es
mir selbst schier das Herz zerreisst.
Und ich habe noch eines gemerkt. Sie ist sich durchaus dessen bewusst,
dass auch ich einen Willen habe. Nach einer Weile - ich habe meinen
Wunsch, weiterzugehen schon ein paarmal geäussert - geht sie dann
auch mit mir weiter, obwohl sie gerne noch länger geblieben wäre.
Sie hat sich an etwas Neues gewöhnen können, statt ein Trauma
des Heraus- und Weggerissenwerdens zu erdulden. Das braucht Zeit.
Kinder leben im Jetzt. Und die Unterbrechung von Aussen reisst ein
Loch ins Gewahrsein dieses "Kontinuums". Das zumindest ist
meine Theorie. Und sie bestätigt sich immer wieder.
Wir können nicht sagen, dass wir unser Kind lieben, und es dann
ständig zum Weinen bringen, wegen so genannter äusserer
Notwendigkeiten. Wenn wir uns ganz ehrlich fragen, was denn da so
wichtig ist, dass es die Lebensfreude der Kleinen abtöten muss, dann
sind es nur und letztendlich unsere alten Vorstellungen, wie die
Dinge zu laufen haben (inklusive unserer Eile).
Natürlich, auch wir haben unsere Grenzen und wir brauchen uns
auch nicht auf der Nase herumtanzen zu lassen...!
Und freilich, man hat auch nicht immer eine Stunde Zeit, um in die
Stadt zu gehen, das ist schon klar. Doch wie oft glauben wir,
wir hätten keine Zeit und stülpen dies den Kleinen über?
Aber Hand aufs Herz - wie ist denn das Machtverhältnis in unserer
Beziehung zu unserem Kind wirklich? Wir sind doch diejenigen, die
bestimmen und das letzte Wort haben - und für so einen kleinen Wurm
ist das ganz schön frustrierend, immer über seinen Kopf hinweg
entschieden zu bekommen.
Wenn ein Kind weint, dann befindet es sich gerade in der Hölle.
Dies nicht ernst zu nehmen, weil wir „Erzogenen“ unsere Gefühle
schon nuancierter (oder abgestumpfter?) erleben und ausdrücken
können, führt nur zu weiteren Verletzungen.
Und wenn es nicht anders geht, weil da ein Auto oder eine
Giftpflanze das Leben bedroht - oder gerne auch Geringeres, was
manchmal Frust erzeugt - dann sollte der Frust auch ausgedrückt
werden dürfen. Doch auch hier begrenzen Eltern gerne ihre Kinder. Es
darf nicht einmal mehr geweint oder geschrien werden. Denn wir wollen
ja nicht als schlechte Eltern dastehen! Und wir ertragen echte Emotionen garnicht mehr.
Doch der Frust muss raus, und wenn er das nicht in einem vertrauten,
liebevollen Rahmen darf, dann wird er später destruktivere Kanäle
finden, wie auf dem Weg in die Stadt, im Papierkorb bei der Schule,
der nach jedem Wochenende voller Wodkaflaschen ist.
Kinder zeigen uns unsere seelischen Problemzonen - dafür sollten
wir ihnen dankbar sein, uns vor ihnen verneigen und dann uns
ändern.
Am Ende des Tages sind es die Entscheidungen, die wir in Liebe
getroffen haben, die den Tag für beide Generationen gut machen. (Ob mir das jeden Tag gelingt, ist zweifelhaft.) Ob
es Tränen gab, ist nicht entscheidend – denn die wird es immer mal
wieder geben, auch ohne unser Zutun. Wichtig ist, ob sie sich zeigen
und in unserer Liebe und Gegenwart auflösen durften.
Dann werden wir auch morgen wieder den Seelenfrieden für „Erziehung“
haben. Wenn nicht, wird es ein Krampf und das hohe Ideal des „Glücks
durch eigene Kinder“ nur eine Illusion sein.
Danke Olivia, dass Du mich gelehrt hast, eine Stunde in die Stadt
zu brauchen, denn es gäbe keinen grösseren Verlust, als Dein
Vertrauen, deine Freude und Deine Liebe...
Der Papierkorb mit Wodkaflaschen auf dem Weg in die Stadt ist
Olivia (bis jetzt) noch nie aufgefallen.
Alles Liebe. Onkel Armin
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